Franz Becker, (ehemaliger) Metzger aus Marburg-Weidenhausen, ist ein sehr politischer Mensch. Seine Meinung zu ausgewählten Aspekten des Weltgeschehens tut er seit einiger Zeit auf großflächigen Tafeln kund, die er in seinem Geschäft ausstellt. Seinen Protest gegen den Irakkrieg trug er in Gestalt der Tafeln auch auf den Marktplatz, wo sich das Oberstadtpublikum über seine Meinung zu Bush („offensichtlich durchgeknallt“, „blutgierig“) und seine Kollegen („Kriegsverbrecher“) informieren konnte. Als er eine Woche darauf eine Standgenehmigung für die Oberstadt beantragte, wurde ihm diese verwehrt, da der Inhalt der Tafeln evtl. strafbar sei. Vorgeworfen wurde Becker „Beleidigung eines befreundeten Staatsoberhauptes“. Er zog nicht in die Oberstadt, stellte die Tafeln in seinem Geschäft aus und erhielt Besuch von der Polizei, die die gewichtigen Schriftstücke beschlagnahmte. Schwer geschockt erstellte Becker gleich neue Tafeln, auf denen er die Erfahrung mit der Polizei zwar als „spannend“ beschrieb, sie aber als Unterdrückung seiner Meinung verurteilte.
Halb Marburg solidarisierte sich daraufhin mit Becker, der als Hauptmotiv seiner Kriegsgegnerschaft angibt, selber die Bombenangriffe auf Marburg am Ende des Zweiten Weltkriegs miterlebt zu haben. Friedensgruppen, Parteien, die Humanistische Union, am Ende gar das Stadtparlament der Stadt Marburg forderten „Meinungsfreiheit für Franz Becker“. Die regionale Presse berichtete intensiv über die Aktivitäten Beckers und seine Verfolgung durch die Polizei, zahlreiche LeserInnenbriefe kritisierten das Vorgehen der Polizei scharf.
Schließlich landete Becker vor Gericht, wo entschieden wurde, dass er seine Tafeln wieder aufstellen darf, da deren Inhalt von dem Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt sei. Einzige Einschränkung: Wenige „beleidigende“ Passagen seien zu schwärzen, darunter jene über Blutgier und Durchgeknalltsein des US-Präsidenten. Becker sieht sich bestätigt. Die Marburger Justiz indes will nicht so schnell beigeben. Sie hat die Bundesregierung und die Vertretung der USA informiert und angefragt, ob sie Becker strafrechtlich verfolgen soll.
Anscheinend hat sie keine Sorge, sich damit lächerlich zu machen. Sicherlich hat George W. Bush nix anderes zu tun, als darüber nachzudenken, ob er gegen Metzger Becker aus Weidenhausen vorgehen möchte. Doch zum Lachen ist dieser Fall sicherlich nicht. Die Kriminalisierung der beleidigenden Aussagen zieht eine enge Grenze für politische Kritik. Wie mag erst die Marburger Justiz reagieren, wenn nicht Schröders Gegenspieler Bush, sondern Schröder selbst als Kriegsverbrecher bezeichnet wird? Einige mögen sich noch an Plakate der DKP erinnern, die zur Zeit des Krieges gegen Jugoslawien Schröder, Scharping und Fischer als Kriegsverbrecher zur Fahndung ausschrieben. In vielen Städten wurden diese Plakate beschlagnahmt, mussten aber später zurückgegeben werden. Gerade in Zeiten von zunehmender Repression, rassistischem Generalverdacht gegen MigrantInnen und offensiven Machtansprüchen Deutschlands gegen Osteuropa gerät linke Kritik ins Visier der Staatsmacht.
Vollends entlarvt sich die Willkür der Justiz in dem Vorwurf, Becker habe ein „befreundetes“ Staatsoberhaubt beleidigt. Selbstverständlich musste niemand einschreiten, als BILD und Scharping die Deutschen ermunterten, Slobodan Milosovic als neuen „Hitler“ zu bezeichnen, ihn Massenmörder und schlimmeres zu nennen: Mit Milosovic war man eben nicht befreundet.
Auch wenn Beckers Kritik fehl geht in ihrer Personalisierung (Bush befiehlt sicherlich keinen Krieg, weil es ihn nach Blut dürstet) und ihrem verschwörungstheoretischen Unterton: Widerstand gegen den Irakkrieg war und ist nötig. Die Motive der US-amerikanischen, der britischen oder anderer Regierungen sind nicht menschenfreundlich und Anschuldigungen gegen die Regierung Bush über die „Vorbereitung eines Angriffskriegs“ sind sicherlich richtig.
Die Welle von Sympathie, die über Becker hereinschwappte, macht ein wenig stutzig. Kein Streit der Parteien, einmütig verteidigt die Stadt einen der Ihren. Das mag damit zusammenhängen, dass das Stadtparlament ebenso deutlich den Irakkrieg ablehnte und Beckers Statements im wesentlichen als Anti-Kriegs-Propaganda aufgefasst wurden. Dass diese vielfach durch persönliche Angriffe auf Bush gekennzeichnet ist, fiel auch der Richterin auf: Wertete sie Beckers Aussagen z.B. über den Staatsterrorismus als strafbar, müsste sie „ziemlich viele Leute festnehmen“. Auch das Vorgehen der Ordnungsbehörden und der Polizei gegen Becker ist für sich genommen nicht verwunderlich. Dass kritische Äußerungen kriminalisiert und verfolgt werden, ist Alltag in Deutschland.
Doch scheinbar gibt es in Marburg auch ein unterschiedliches Maß für tolerierbare Kritik. Wurden die US-kritischen Tafeln zumindest zeitweise von der Polizei eingezogen, interessierte diese sich in der Vergangenheit nicht so sehr für Franz Becker. Auch die zahlreichen UnterstützerInnen von Becker scheren sich wenig um Motivation und Begründung seiner Äußerungen. Wenige Monate bevor Becker mit besagten Tafeln Prominenz erreichte, äußerte er sich mit gleicher Methode auch zum Konflikt zwischen Israel und den PalästinenserInnen.
Auf seinen Tafeln bezeichnete er die Gründung Israels als „Verbrechen“. Das Vorgehen der israelischen Armee gegen die palästinensische Bevölkerung (wie übrigens auch die Bush-Politik) erinnerte ihn an das nationalsozialistische Deutschland. So behauptete er, „die Juden“ hätten „von Hitler viel gelernt“ und wendeten das Erlernte gegen die PalästinenserInnen an. Solche Äußerungen würden aber unterdrückt. Eine „zionistisch-jüdische Pressedominanz“, kontrolliert durch den „Einfluss jüdischen Finanzkapitals in den USA“, verhindere wahrheitsgemäße Berichterstattung über die durch Becker zu neuen Nazis ernannten Israelis. Schließlich konnte Metzger Becker noch Fachwissen in sein antisemitisches Weltbild einbringen: Bereits 1950 seien „Juden“ rund um Marburg beim „Schächten“ ertappt worden. Den Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt muss die Betrachterin wohl selber herstellen.
Angesichts dieser Tafeln wurde auch die Polizei gerufen, die mit Unterstützung des Staatsschutzes (politische Polizei) anrückte. Ein Verfahren gegen Becker wurde – anders als bei seiner US-Kritik – jedoch nicht eingeleitet. Das wirft die Frage auf, ob Beckers Äußerungen zu Israel vielleicht missverständlich waren, die Justiz vielleicht nicht erkennen konnte, ob „beleidigende“ Aussagen enthalten seien. Das ist natürlich Blödsinn. Wer dem Staat, der u.a. als sicherer Zufluchtsort für Jüdinnen und Juden nach der Shoah gegründet worden ist, Nazi-Methoden vorwirft, verabschiedet sich von jeglicher zulässiger Kritik an Israel. Der Vorwurf ist nicht nur falsch, er ist infam und unverschämt. Doch die Erfahrungen mit den Fällen Möllemann und Karsli zeigen, dass entsprechende Aussagen in Deutschland besonders goutiert werden, kann man doch so in wenigen Sätzen sowohl dem eigenen Antisemitismus ein „neutraleres“ Kleid verpassen als auch die deutschen Verbrechen relativieren. Wer dann noch von der jüdischen Kontrolle über die USA und die gesamte Presse schreibt, benutzt ein Nazi-Vokabular, das auch die Marburger Justiz erkennen sollte.
Halten wir also fest: Offener Antisemitismus wird ignoriert, anti-amerikanische Kriegsgegnerschaft ein wenig verfolgt. Selbstverständlich soll hier nicht die Justiz als Mittel der politischen Auseinandersetzung empfohlen werden. Aber das Ungleichgewicht fällt ins Auge. Auch die Becker unterstützenden Gruppierungen halten sich sonst in der Regel vornehm zurück, wenn Meinungsfreiheit für Linke eingeschränkt wird, wenn Protest kriminalisiert wird oder mit Gewalt unterdrückt wird. Was weit schlimmer ist: Seine antisemitische Propaganda interessiert die Pro-Becker-Bewegung überhaupt nicht. Zumindest im Fall der Humanistischen Union verwundert das wenig: Ihr Vorsitzender Franz-Josef Hanke hat bereits vor vielen Monaten in seinem Online-Magazin unter der Überschrift „Scharons Fatwa: Endlösung der Palästinenserfrage?“ vom „Vernichtungskrieg“ Israels gegen die PalästinenserInnen geschrieben und die Frage gestellt, ob denn die „Mehrheit der israelischen Bevölkerung nichts aus dem Holocaust gelernt“ hätte. Auch hier ist weder ein Einschreiten der Justiz noch eine Distanzierung anderer Organisationen bekannt geworden.
Das Vorgehen der Justiz gegen die inkriminierten Äußerungen über Bush ist zu verurteilen. Dass viele KriegsgegnerInnen sich mit gemeint fühlen, dass Linke sich ausmalen, was ihnen dann erst droht, wenn bereits Zweifel am Geisteszustand des US-Präsidenten kriminalisiert werden, ist berechtigt. Doch wo – wie im Fall Franz Becker – Kriegsgegnerschaft personalisiert daherkommt, sich in Verschwörungstheorien erschöpft und problemlos mit offenem Antisemitismus gekoppelt werden darf, ist kein progressives Anknüpfen möglich. Will linke Kritik an Krieg, Imperialismus und Ausbeutung glaubhaft sein, muss sie sich klar distanzieren von Positionen wie jenen von Franz Becker.
(pw)