Dass deutsche Erinnerungspolitik schon immer auch deutsche Außenpolitik gewesen ist, dürfte nichts Neues sein. Bis vor einigen Jahren wirkte sich die Vergangenheit für deutsches Auftreten in der Welt aus guten Gründen noch eher hemmend aus. Dies ist allerdings vorbei. Nachdem Deutschland 1999 mit seinem dritten Angriffskrieg gegen Jugoslawien im 20. Jahrhundert den wichtigsten Schritt getan hatte, sich der Vergangenheit via offensiver Aneignung zu entledigen und 2002 die deutsche Sicherheit »am Hindukusch« verteidigt wurde, drohte Peter Struck Ende März: »Der Einsatzort der Bundeswehr ist die ganze Welt!« Ein steter Aufstieg – doch echter Krieg ist nur eine Schiene, auf der die Deutschen fahren, um sich weltpolitisch zu behaupten. Legitimation dafür geben sie sich selbst und bekommen sie gleichzeitig über ein zweites Standbein: das Opfersein. Die Bomben der Alliierten, Vertreibung und »rassistische Säuberungspolitik« Polens und der Tschechoslowakei, Zwangsarbeit in Sibirien und nicht zuletzt dieser Hitler – was haben die Deutschen nicht alles mitgemacht?!
Bei der Neuinterpretation der Geschichte hilft die ganze Volksgemeinschaft. Die hierbei dominanten Strategien von Leugnung und Verdrängung über Relativierung bis zur abstrakten Aneignung verlaufen seit Ende des NS parallel, wenn auch mit schwankender Gewichtung. Obgleich z.T. widersprüchlich ergänzen sie sich in ihrer Konsequenz ausgezeichnet. Bei der Analyse der Vergangenheitsentledigung muss allerdings zwischen der offiziellen, »politisch korrekten« Erinnerungspolitik, der Erinnerung der öffentlichen Meinung und der Tradierung in der nicht-öffentliche Sphäre unterschieden werden. Mit letzterer ist das vermeintlich »Private«, nicht weniger Politische gemeint, in deren Horten volksgemeinschaftlicher Genugtuung – z.B. in Familien, Vereinen, an Stammtischen – seit Jahrzehnten generationsübergreifend die oral history Millionen »deutscher HeldInnen« resp. »Opfer« weitergegeben wird. Hier kann geäußert werden, was sich auf »offizieller« Ebene z.T. (noch) verbietet, will sich Deutschland auf dem Normalisierungsvormarsch nicht die Skepsis anderer Staaten einhandeln. Personell muss deshalb zwischen den verschiedenen Diskursebenen übrigens nicht unbedingt unterschieden werden. In der öffentlichen Meinung läuft dann endlich zusammen, was zusammen gehört. Gespeist wird dieses Konglomerat deutscher Geschichtsverbiegung zusätzlich aus Kultur, Wissenschaft und medial geäußerter Meinung.
Für die deutsche Vergangenheitsbefassung und -instrumentalisierung spielen diese unterschiedlichen Ebenen ihre je eigene Rolle. Der Opferdiskurs wird dabei in allen Bereichen seit Jahren geführt.
Nach 1945 formierten diejenigen, die sich selbst als »MitläuferInnen« definierten die (westdeutsche) Gemeinschaft. (In der DDR, um die es im Weiteren nicht mehr gehen wird, setzte sich kaum jemand wirklich mit dem NS auseinander, galt doch der Faschismus als rein kapitalistisches Problem. In diesem Zusammenhang wurde dem NS beispielsweise in den Lehrplänen auch relativ viel Platz eingeräumt. Jüdinnen und Juden kamen in den Untersuchungen zur NS-Herrschaft hingegen wenig vor und eine Auseinandersetzung mit der eigenen TäterInnenschaft fand ebenfalls kaum statt. »MitläuferInnen« und »deutsche Opfer« gab es in der DDR deshalb nicht zwangsläufig weniger.)
Ausgeschlossen aus der Volksgemeinschaft waren zukünftig diejenigen, die allein durch ihre Existenz an deutsche, insbesondere persönliche Schuld oder den unterlassenen Widerstand der »MitläuferInnen« erinnerten: explizite Nicht-Nazis und prominente oder aktive Alt- bzw. Neo-Nazis. Schon der Terminus »MitläuferIn« deutet auf die Selbstviktimisierung der Deutschen hin, die sich nach dem »Zusammenbruch«, den für sie das Ende des deutschen Faschismus als Regierungsform bedeutete, als »Verführte« Hitlers, als Betrogene, als Gezwungene sahen. Fortan beschäftigten sie sich in erster Linie mit sich selbst und trauerten um ihre eigenen materiellen und emotionellen Verluste. Um die Millionen Menschen, die die Deutschen aus Überzeugung ermordeten, trauerten sie nicht. Aber die Fähigkeit der Deutschen, über die Vernichtung der Jüdinnen und Juden, über die NS-Geschichte und ihre Opfer zu trauern, muss ohnehin bezweifelt werden. Denn, damit über jemanden oder etwas überhaupt getrauert werden kann, müsste zunächst eine positive Haltung zu den zu Betrauernden bestanden haben. Davon kann hier nicht die Rede sein. Mehr noch: Den Opfern des NS wurde und wird ihre »Existenz als Erinnerung« bis heute übel genommen, was sich im latenten Antisemitismus auf spezifische Weise zeigt.
Mit dem Fortbestand der Volksgemeinschaft in der Demokratie änderte sich also insofern an der Einstellung der Deutschen nicht viel. Vermeintliche Entnazifizierung und Re-Education können ebenfalls kaum darüber hinweg täuschen, dass in Politik und Erziehung, in Umgang und Verhalten der Bevölkerung die Nazistrukturen nicht alle plötzlich verschwanden. Doch die »nationale Beschäftigungstherapie des Wiederaufbaus« und die Identifizierung mit den westlichen Siegern ließen die BRD aufatmen, sich schließlich sukzessive aufblasen bis zum heutigen »Vorreiterland in Europa«. Dabei kann man die Demokratisierung auch noch als den Erfolg verkaufen, Deutschland habe aus seiner Vergangenheit gelernt.
Versuche einer Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung gab es erst mit den gesellschaftlichen Veränderungen Ende der 1960er Jahre über die verschiedenen sozialen Bewegungen. Die Kinder der TäterInnengeneration waren dabei aus verschiedenen Gründen wenig erfolgreich: Verkürzte Faschismustheorien, die den NS hauptsächlich ökonomisch begründeten, ließen insbesondere den Antisemitismus in ihrer Analyse unberücksichtigt, ja sie waren bestimmten antisemitischen Strömungen in der Linken sowie in der öffentlichen Meinung sogar zuträglich. Die Pauschalverurteilung der Eltern konnte kaum zum konkreten Begreifen deren Beteiligung beitragen und muss für die Haltung vieler »68er« mitverantwortlich gemacht werden, die heute eine Aussöhnung mit ihren Eltern suchen – z.B. nach dem Motto: »Ich weiß ja nicht, wie ich mich verhalten hätte«. Des Weiteren hätten viele der »68er« auch lieber einen positiven Bezug zu Heimat und Vaterland – so trauerte der »Heimatvertriebene« J. Fischer (Außenminister) 2003 in der ›Zeit‹ mit der Frage »Was haben wir uns angetan?« in erster Linie um den Verlust der (deutschen) Kultur, den die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas mit sich brachte.
Dennoch trug der in der Öffentlichkeit teilweise vollzogene Bewusstseinswandel der 1970er Jahre zu gewissen Veränderungen der offiziellen Politik bei. Und obwohl sich die Kohl-Regierung mit der »geistig-moralischen Wende« ab Anfang der 1980er Jahre bemühte, die »Vertreibungslüge« mit der Leugnung von Auschwitz gleichzustellen, die Wehrmacht zu rehabilitieren und SS-Runen zu ehren, wurden die Diskurse in der öffentlichen Meinung bis in die neunziger Jahre hinein eher von der sozialliberalen Seite entschieden für sich (Historikerstreit, Wehrmachtsausstellung).
Eine adäquate Thematisierung deutscher Schuld fand aber zu keiner Zeit statt, außer innerhalb der möglichst klein gehaltenen antifaschistischen Szene.
Stattdessen wurde und wird neben der Verdrängung aggressiv erinnert. Allerdings eben kaum an die Opfer deutscher Volkstums- und Vernichtungspolitik, vielmehr an »deutsches Leid«. Die Deutschen mussten nicht einmal lange überlegen, als innerhalb des letzten Jahrzehnts die Thematisierung »deutschen Schicksals« mehr und mehr en vogue wurde. Schließlich war es nie ein Tabu – auch wenn es einigen so wichtig ist, Opfer zu sein, dass sie einfach ein solches herbeihalluzinierten.
Auf den verschiedenen, einleitend beschriebenen Diskurs-ebenen verläuft und verlief die Thematisierung deutschen Leids unterschiedlich. Beispielhaft für die Geschichtsinterpretation der offiziellen wie der öffentlichen Sphäre in der BRD, die die Verdrängung und die Opfergeschichtsschreibung der nicht-öffentlichen Sphäre stützt(e), sind die Inhalte der Schulbücher der 1950er Jahre. Vor allem Leidens- und HeldInnengeschichten sowie bare Lügen über die Jahre 1933-45 finden sich hier. So ist bei Schöningh/Schroedel 1957 zu lesen, dass »in der zweitausendjährigen, an Leid und Not reichen deutschen Geschichte (…) eine derartige Katastrophe vom deutschen Volk nicht ertragen worden ist wie die des Jahres 1945 für die Flüchtlinge wie für die zurückgebliebenen Opfer feindlicher Rache«. Weder der Holocaust und seine Vorgeschichte noch ganz normale TäterInnen, die nicht auf der Anklagebank bei den Auschwitzprozessen saßen, kommen in diesem Buch vor. In einem anderen Buch ist statt von Millionen ZwangsarbeiterInnen bloß von »Tausenden Verschleppten« die Rede, Jüdinnen und Juden scheinen nur »nebenbei« in diffus bleibenden KZs ermordet worden zu sein, vielmehr werden ihre Tode auf Erfrieren, Freitod oder Entkräftung zurückgeführt (von Erschießungen ist beispielsweise überhaupt keine Rede).
Obwohl von dieser Form der Geschichtsfälschung mittlerweile abgesehen wird, ist bis heute in zahlreichen Schulbüchern von der Machtergreifung durch, nicht -übertragung an Hitler bzw. die Nazis die Rede, wird die Schuld an der Etablierung des NS den zerstrittenen Parteien SPD und KPD zugeschoben, scheinen die Deutschen insgesamt eher ungewollt in die zwölf Jahre Nationalsozialismus hineingeschlittert oder dazu »verführt« worden zu sein.
Die angeführten Beispiele sind exakt dieselben Kapitel deutscher Opferisierung, die in den letzten fünf Jahren einen besonderen Hype erleben durften.
Hauptkapitel deutscher Opfergeschichte ist wohl das Thema »Flucht und Vertreibung«. In der »Vertreibungsgeschichte« wird sich zur Zeit regelrecht gesuhlt. Die Stiftung ›Zentrum gegen Vertreibungen‹ (ZgV) z.B. will mit ihrem gleichnamigen erinnerungspolitischen Projekt die deutsche Kollektivunschuld gleich institutionalisieren (vgl. letzter Sputnik). Sie kann dabei auf eine lange Tradition der Viktimisierung durch die verschiedenen völkischen Unterorganisationen des Bundes der Vertriebenen (BdV) zurückgreifen. Diese haben mit ihrer revanchistischen Propaganda bereits Bibliotheken gefüllt. Und jetzt, da das Thema gerade so in ist, wird immer wieder noch so manche »vertriebene« Großmutter ausgegraben.
Dabei war und ist man bemüht um den (NS-)assoziationsgeladenen Ausdruck: »Rassenwahn« beispielsweise soll laut Erika Steinbach, Vorsitzende des BdV und Initiatorin der Stiftung ZgV, Grundlage der Politik der Tschechoslowakei gegenüber den opportunistischen Nazi-Deutschen gewesen sein. So lassen sich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Denn wenn man sich selbst zum Opfer einer derartigen Politik macht, kann man zum einen »Erfahrung mit Leid« moralisch-argumentativ nutzen, zum zweiten beanspruchen, dass »die anderen auch TäterInnen« gewesen seien. Dass hier dreis in keiner Weise die Verhältnismäßigkeit der unterschiedlichen Geschehnisse berücksichtigt ist, sondern Ursache und Wirkung bewußt voneinander entkoppelt wurden, ist offensichtlich. Mittels impliziter wie expliziter enthistorisierter historischer Vergleiche soll moralisiert werden können, damit auch die unverschämteste Forderung der »Entheimateten« unhinterfragbar wird. Um die tatsächliche Aufarbeitung des unbestritten erlittenen Leids mitsamt seiner Vorgeschichte geht es indes nicht.
Die selbstbewusste Forcierung eines Anspruchs auf Opferstatus durch die BdV-Initiative nimmt auch die Bundesregierung gerne auf. Davon zeugen nicht zuletzt die Besuche von Antje Vollmer, Otto Schily und Gerhard Schröder bei verschiedenen »Tagen der Heimat«. Das Ansinnen des BdV, »Heimatvertriebene« und »deutsche Zwangsarbeiter« zu entschädigen, wofür auf die entsprechenden Länder massiv Druck ausgeübt wird – bestes Beispiel ist die Debatte um die Beneš-Dekrete – kommt nebenbei deutschen Interessen entgegen, die über »deutsche Minderheiten« die Politik anderer Länder von innen beeinflussen wollen.
In das Wehklagen der »Heimatvertriebenen« wollen darüber hinaus auch andere »deutsche Opfer« mit einstimmen, das zeigt die breite Unterstützung des Opferdiskurses durch verschiedenste gesellschaftliche Gruppen. »Endlich« wollen die Deutschen die Aufmerksamkeit erhalten, die sie bisher angeblich Jüdinnen, Roma und Kommunisten überlassen mussten. Zu diesem Zweck wurde und wird eine andere Geschichte etabliert, in der sich die TäterInnen als Opfer oder HeldInnen darstellen oder dazu gemacht werden und sich darüber der Verantwortung der TäterInnenschaft oder des Opportunismus entziehen. Bemerkenswert ist, dass die HeldInnen- und die Opfergeschichten meist nicht die TäterInnen selbst, sondern deren Kinder und Enkel schreiben und erzählen. Sogar benannte Morde durch die (Groß-)Eltern werden dabei einfach nicht wahrgenommen, wie Welzer et al. in ihrer eindrucksvollen Studie ›Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis‹ belegen. Die Verdrängung der NS-Vergangenheit hat also viele Gesichter und endet nicht bei denen, die eigene Taten oder eigenen Opportunismus zu verdrängen haben. Die Abwehr ist die scheinbar einfachere Reaktion auf das Unfassbare, statt dass »man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewusstsein« (Adorno). Gleichzeitig ist sie Bedingung für die TäterInnen-Opfer-Vermischung.
Deutsche Opfergeschichte wurde die gesamte Nachkriegszeit über auch außerhalb von Schulbüchern und abseits der sonntäglichen Kaffeetafel geschrieben. Mitglieder der einflussreichen LiteratInnen-Gruppe 47 waren bemüht, deutsche Literatur aus der »Verpflichtung (…) zu lösen« und nach der »Stunde Null« den nachfolgenden Generationen »vollkommene Voraussetzungslosigkeit« zu attestieren. Gleichzeitig wurde aus diesen Kreisen die »doppelte Besatzung« und die »Errichtung zweier Kolonialsysteme« (BRD und DDR) beklagt.
Der neueste Clou und gleichzeitig das andere große Kapitel des »deutschen Schicksals« kann bis in die Endphase des Krieges zurückverfolgt werden: Bereits damals sahen sich die Deutschen als Opfer der Bomben der Alliierten. Die zu der Zeit verbreitete Propaganda wirkt bis heute nach. Jörg Friedrich lieferte 2003 mit ›Der Brand‹ das derzeit meistdiskutierte Buch zu diesem Thema, in welchem er die Bombardierung von Dresden 1944 verwurstet. Die Sprache, derer er sich dabei bedient, ist – wie auch z.T. die des ZgV – nicht umsonst eher aus den Publikationen über den NS sowie dessen Strukturen und Organisationsformen bekannt: Bomberkommandos der Alliierten werden bei Friedrich zu »Einsatzgruppen«, einem feststehenden Begriff für die Vernichtungskommandos der SS im Osten, Keller und Bunker heißen bei Friedrich »Krematorien«, die von den Alliierten in Kauf genommene Zerstörung von Bibliotheken ist nach ihm »die größte Bücherverbrennung aller Zeiten«. Man muss schon sehr naiv sein, um dem NS-»Experten« und Mitarbeiter an der ›Enzyklopädie des Holocaust‹ abzunehmen, dass es ihm nicht um die »Anthropologisierung von Leid« (Diner) geht, die jeglicher Kontextualisierung spottet, in der nur noch eine Leiderfahrung aller möglichen, besonders aber der deutschen Opfer thematisiert wird, ohne sich für die Ursachen dieses Leids zu interessieren. Da hilft auch der Hinweis Adornos nicht, der die Irrationalität einer »Schuldaufrechnung« benannte, »als ob Dresden Auschwitz abgegolten hätte«. Denn zweckrational ist es allemal, die Bomben als Kriegsverbrechen, als Unrecht zu brandmarken.
Nachdem über die Jahre auf allen Ebenen die TäterInnen erfolgreich verschwanden, falls sie überhaupt aufgetaucht waren, haben mit diesen beiden größten Aspekten der deutschen Opferdiskurs-Dreistigkeit in den letzten Jahren zwei Themen die offizielle Sphäre erreicht, die zuvor in erster Linie im nicht-öffentlichen und öffentlichen Raum tradiert wurden.
Es verwundert daher kaum, dass trotz der Versuche der BRD, das Bild einer geläuterten Gesellschaft abzugeben, indem sie ab und zu mal ein paar Auflagen für Nazidemos macht, und der NS Thema auf den Lehrplänen ist, und trotz der relativen sozialliberalen Diskurssiege der vergangenen Jahrzehnte, deutsche Geschichte alles andere als historisch adäquat geschrieben wird.
Diese Versuche sollten denn auch nicht allzu ernst genommen werden, hat Deutschland schließlich auch auf offizieller Ebene immer wieder die Normierung eines deutschlandfreundlichen Geschichtsbildes durchgesetzt und die öffentliche Würdigung »deutscher Opfer« eingefordert.
Selbstverständlich kann ein Bild der Opferdeutschen nur über eine reichlich fragmentarische Darstellung des Geschehenen erreicht werden. Individuelle Erfahrungen und Kollektives werden daher so miteinander vermischt, dass der Eindruck der absoluten Übertragbarkeit von der einen Ebene auf die andere entsteht. Es resultiert daraus die Möglichkeit, von individuell erlebtem Leid, z.B. der von polnischem oder tschechoslowakischem Staatsgebiet umgesiedelten Deutschen, auf eine »gegen alle Deutsche« gerichtete Politik zu schließen. Dass beispielsweise deutsche AntifaschistInnen explizit von der Umsiedlung ausgenommen waren und daher mitnichten von »ethnischer Säuberung« gesprochen werden kann, wird von den sich Opferisierenden nicht wahrgenommen bzw. explizit geleugnet. Ähnliches gilt für Fakten und Erinnerungen, Gesehenes, Gelesenes und Eingebleutes. Zahlen und Ereignisse werden aus dem historischen Zusammenhang gerissen und aus der Ursächlichkeit herausgelöst. Erst, wenn alles enthistorisiert ist und alles mit allem vergleichbar wird, kann nämlich der deutsche Opferanspruch durchgesetzt werden.
Nicht unwesentlich ist dabei auch die all dies durchdringende Moralisierung. Die Deutschen wissen nämlich sehr wohl, zwischen »gut« und »böse« zu unterscheiden. Sie haben im Übrigen auch gelernt, dass etwa Hitler, KZs und Auschwitz »böse« waren. Darüber hinaus ist es ihnen gelungen, diese Kategorien zu internationalisieren. Zur Relativierung deutscher Schuld braucht’s daher bloß noch ein paar andere »Böse«, die »Hitler« o.ä. genannt werden können oder die Leiderfahrung, um zu den »Guten«, weil hilflosen Opfern, dazuzugehören. Die Neutralisierungsrechnung der Deutschen ist einfach: Für große angelastete Schuld muss großes selbst erfahrenes Leid her. Und davon haben die Deutschen ja bekanntlich einiges in petto.
Das versteht man auch über die Grenzen hinaus. Seit sich Deutschland in einer abstrakten Annahme der TäterInnenschaft die Geschichte aneignet – Goldhagen hat sicher einen Teil der Vorarbeit dazu geleistet, als er den »heutigen« Deutschen bescheinigte, ganz anders als die damaligen MörderInnen und OpportunistInnen zu sein – scheint diese »Normalisierung« Deutschlands für andere Staaten akzeptabel zu sein. So zeichnet sich bereits eine »Europäisierung« des Shoah-Gedächtnisses ab. Was allerdings andere Staaten reitet, Deutschland in seinem Befreiungsunternehmen auch von außen her zu unterstützen, muss an anderer Stelle erörtert werden.
Einem für Strukturen und historisch-gesellschaftliche Kontexte blinden Menschenrechtsimperativ folgend, zählt auch hierbei im Rückblick in erster Linie das Leid, das der Nationalsozialismus – und nicht etwa die Deutschen – über die Welt inklusive Deutschland brachte. Ist das Leid erst einmal universal, so kann auch der TäterInnen-Opfer-Unterschied zur Unkenntlichkeit relativiert werden. Mit dieser Strategie entledigen sich die Deutschen endlich ihree »historischen Makels«.
Was daraus resultiert und resultieren muss, damit die Deutschen können dürfen, was sie so sehnlichst können wollen, ist eine abstrakte, entkonkretisierte Distanzierung von den für schrecklich befundenen Geschehnissen des NS, wobei niemand mehr weiß, was in Auschwitz tatsächlich passiert ist. So kann »Auschwitz« auch im Kosovo entdeckt werden, wenn es mal nötig ist, so können »6 Millionen Juden«, selbst wenn sie quasi-industriell vernichtet wurden, kaum noch gegen »15 Millionen Vertriebene« bestehen, die in den Erzählungen der »Heimatvertriebenen« »ja auch Opfer von ethnischen Säuberungen« wurden. Und es hilft, wenn die USA Jagd auf verschiedene »Hitlers« im Irak oder sonst wo macht, »aus eigener leidvoller Erfahrung heraus« sich gegen den Erzfeind zu richten. Und schließlich wissen die Deutschen am besten, wer ein echter Hitler ist.
(àe)