Disziplinierung, Selektion und die Zerstörung von Lebensentwürfen

Auswirkungen des hessischen Studienguthabengesetzes (StuGuG)

Das StuGuG hat vielschichtige Auswirkungen. Eine davon ist, dass es den Vertrauensschutz Studierender aushöhlt. Eine Vielzahl von Studentinnen und Studenten, die vor einigen Jahren ihre Studienplanung gemacht haben, ohne etwas von drohenden Studiengebühren zu ahnen, haben jetzt einfach Pech gehabt. Sie müssen Gebühren zahlen, oder – wenn sie dazu finanziell nicht in der Lage sind – ihr Studium aufgeben und den Hochschulabschluss abschreiben.

Es gibt eine Vielzahl Gründe, länger zu studieren. Das können sowohl Entwicklungen sein, die außerhalb des individuellen Einflusses der einzelnen Studierenden liegen, als auch schlicht ein von den Vorstellungen von Landesregierung, Wirtschaft und weiten Teilen der Gesellschaft abweichender Zugang zum Studium. Viele sind mit dem hessischen Wissenschaftsminister Corts – zumindest vorgeschoben – der Meinung, es müsse Verteilungsgerechtigkeit der knappen »Ressource Bildung« hergestellt werden. Das solle dadurch geschehen, dass nur denjenigen diese »Ressource« zukommen soll, die verantwortungsvoll mit ihr haushalten. Doch: Studierende verknappen die »Ressource« Bildung nicht dadurch, dass sie über einen längeren Zeitraum von ihr Gebrauch machen. Mehr noch: Sie sind überhaupt nicht in der Lage dazu, sie zu verknappen.

Normierung statt Bildung

Das StuGuG reglementiert das Studieren effektiv und stutzt die bisher noch vergleichsweise reichhaltigen Möglichkeiten des Studienverlaufs und der Studienplanung auf einige wenige zurecht. Die dann noch verbleibenden Möglichkeiten zur Gestaltung des Studienverlaufs gruppieren sich alle um die zentrale Norm hohe Effektivität beim Studieren. Sind die finanziellen, zeitlichen oder sonstigen Möglichkeiten begrenzt, muss von der/dem einzelnen Studierenden sorgfältig abgewogen werden, welche Veranstaltungen besucht und welche Energie investiert werden soll: Für die Studierenden, die sich nicht von dem Zeitdruck freikaufen können, gilt: Die Kapazitäten müssen für die veranstaltungen aufgewandt werden, in denen die Möglichkeit zum Scheinerwerb besteht.

Das Studienguthabengesetz produziert überhaupt erst diejenigen »AbweichlerInnen«, die es dann bestraft: Die von ihm ausgemachte Gruppe der angeblich schmarotzenden Studierenden, die Minister Corts »Bummelstudenten« nennt und denen er – wenig subtil – Subventionsbetrug vorwirft, gibt es so nicht. Hier wurde ein neuer Tatbestand geschaffen. Wie lange jemand braucht, um sich in ihr oder sein Studienfach zu vertiefen, ist höchst verschieden. Ob man eine diesbezügliche längere Dauer Interesse und umfassendes Lernen oder aber Faulheit und Bummelei nennt, liegt in den Augen der Betrachterin und ihrer Überzeugungen.

Die hessische Landesregierung hat nicht etwa einen Missstand gefunden, den es zu beheben gilt, sie hat ihn erfunden. Dabei muss sie nicht einmal besonderes Überzeugungstalent an den Tag legen, um eine breite Mehrheit der Bevölkerung für ihrer Sicht der Dinge zu gewinnen, denn sie passt sich glänzend in die vorherrschende Leistungsideologie ein, die bereits ins Alltagsverständnis übergegangen ist.

Der Erwerb zusätzlicher Qualifikationen, das Interesse für mehr als die vorgeschrieben Seminare des eigenen Faches, gesellschaftliches Engagement oder individuelle Pflege von Menschen, die Erziehung von Kindern oder schlicht das Bedürfnis, ein bisschen langsamer zu studieren und dafür ein Leben neben dem Studium zu haben, werden den Studierenden nun zum Verhängnis. Allein, die Bildung wird dadurch immer noch nicht knapp.

Wenn die vorgeschobenen Argumente der hessischen Landesregierung einer genaueren Überprüfung nicht standhalten, was sind dann die tatsächlichen, nicht ausgesprochenen Gründe für die Einführung von Langzeitstudiengebühren? Schon der Namen des Gesetzes gibt hier den entscheidenden Hinweis: Studienguthaben.

Bildung als Ware und Konsumgut

Hochschulbildung als ein Bereich, der bisher – zumindest in der Theorie – von ökonomischer Zweckrationalität relativ freigestellt war, wird jetzt auch offi­ziell zur Ware. Dazu passt Corts‘ oben bereits erwähnte Argumentationsfigur der Bildung als Ressource. Dass er sie als solche bezeichnet, ist für ihn äußerst zweckmäßig, denn dadurch erweckt er den Anschein, es handele sich hierbei um eine kon­text­un­ab­hän­gi­ge Wahrheit. Dabei ist es doch vielmehr so, dass die hessische Landesregierung mit dem StuGuG die Warenförmigkeit der Bildung weiter zementiert, mit der Konsequenz, dass Hochschulbildung nun auch formal ein in kleine, einsemestrige Pakete verpacktes Konsumgut geworden ist. Sie wird jetzt in einem offiziellen Akt eingekauft, und nicht mehr, wie das bisher der Fall war, relativ unausgesprochen über Klassenzugehörigkeit ermöglicht, erworben und gefestigt. Die Neuerungen wirken sozial verschärfend: Es wird noch mehr Menschen geben, die sich zukünftig Bildung nicht mehr leisten können, und es wird noch mehr Menschen geben, die sich an Bildung verschulden. Weit ab vom Ideal einer Bildung um ihrer selbst willen ist ein – mehr als bisher als solcher empfundener – gekaufter Abschluss Puzzle­teil einer Karriere, Türöffner und Verheißung künftigen Wohlstands. Studierende sollen nun auf reine Tauschwertproduktion konditioniert werden: Hausarbeit gegen Schein, Scheine gegen Abschluss, Abschluss gegen Zukunftschancen.

Man muss keine orthodoxe Marxistin sein, um zu bemerken, dass die alte Formel »Tauschwertproduktion = Negation der natürlichen Existenz« in den praktischen Konsequenzen des StuGuG ihren Beweis findet. Man muss auch keine Freundin der klassischen Bildungsaufklärer á la Humboldt sein, um zu erkennen welche »natürliche Existenz« hier negiert wird: die des Studiums als Selbst- und Persönlichkeitsbildung, als Möglichkeit zur Emanzipation.

Das Gegenteil von Emanzipation wird eine Folge des StuGuG sein, denn das Gesetz wirkt disziplinierend und einpassend. Der Großteil der Studierenden wird gezwungen sein, schnell zu studieren. Formen des Engagements und der Partizipation neben dem Studium sind in dieser Matrix, ebenso wie eine Haltung des kritischen Hinterfragens, gefährlich verzögernder Ballast. Hier scheint eine Parallele zu den Hartz-Gesetzen der rot-grünen Bundesregierung auf, die Ausdruck der selben Leistungsideologie sind: Der Druck auf die/den Einzelne/n wird erhöht, auf dass diese/r ausschließlich nutz- und mehrwertproduzierend Handeln möge, bzw. beim StuGuG: keine negative Bilanz hinterlasse. Der Mensch als Summe, als Nutz- oder Ballastexistenz. Das Disziplinierungsziel ist ein Mensch, der sich selbst zum Rädchen und Funktionsbündel umformt – unter Verlust von Individualität, Phantasie, Widerspruchsfähigkeit und aus Furcht vor sozialer Stigmatisierung und staatlicher Repression. Das vermittelt eine Ahnung des Totalitarismus der formaldemokratischen Kapitalismen.

Dieser Totalitarismus bezieht sich ideologisch auf Arbeit und Leistung. Sie werden zum zentralen und ausschließlichen Maßstab für den Menschen in der Gesellschaft. Weite Bevölkerungsschichten geraten unter einen empfindlich gesteigerten Leistungsdruck, die Gefahr der Selektion, der kulturellen Randständigkeit und des kulturellen Ausschlusses wird virulenter. Die soziale Schere geht weiter auseinander. Dies ist keine Entwicklung, die erst durch das StuGuG hervorgerufen worden wäre. Aber das Gesetz ist ein weiterer Baustein in der unsozialen Politik.

Zerstörung von Lebenswegen als »Erfolg«

Die CDU-Landesregierung jubelt bereits: Zwischen 20 und 30 Prozent exmatrikulierter Stu­dent­In­nen stellten einen Erfolg dar. Schmerzhaft werden jetzt all jene eines besseren belehrt, die bisher nicht anerkannten, dass es eben gerade explizites Ziel des Gesetzes ist, bestimmte Gruppen von Studierenden von der Uni zu schmeißen und in Zukunft von Beginn an abzuschrecken. Nicht verbesserte Studienbedingungen, nicht Hilfe für Studierende, noch nicht einmal Einsparungen öffentlicher Mittel haben irgend etwas mit diesem Gesetz zu tun.

Auch in anderen Bundesländern schreitet die Ausweitung von Gebühren weiter voran (die Berliner PDS war klug genug, ihren Parteitagsbeschluss gegen Studiengebühren erst zu fassen, nachdem der Berliner Senat auf Drängen des zuständigen PDS-Senators bereits die Einführung eben jener Gebühren beschlossen hatte). Im nächsten Schritt werden – wahrscheinlich schon in ein paar Monaten oder im nächsten Jahr – Studiengebühren vom ersten Semester an folgen. Noch ist die Klage u.a. von Hessen gegen das Verbot von Studiengebühren vom Bundesverfassungsgericht nicht entschieden. Aber wenn das Gericht wie erwartet das Verbot kippt, werden flächendeckende Studiengebühren vom ersten Semester an in Deutschland das Studium endgültig zu einer Perspektive machen, die nur den oberen Schichten offen steht.

Das hessische StuGuG ist Baustein dieser neuen sozialen Wirklichkeit und wird seinen Teil dazu beitragen, dass öffentliche Räume, die der ökonomischen Verwertbarkeit nicht ganz so zugänglich sind, kleiner werden; dass Kritik von Furcht vor Ausschluss und der Androhung von Sanktionen gehemmt wird; dass die Verwirklichung individueller Lebensentwürfe Studierender, die sich jenseits summarischer Zweckrationalität bewegen, zunehmend verengt bis verunmöglicht werden.

(mi)

sputnik