In den letzten Wochen häufen sich auch in Deutschland wieder Medienberichte über die innenpolitische Situation in Venezuela. Dominantes Thema ist dabei der Machtkampf der Opposition mit dem angeblich autokratischen Präsidenten Hugo Chávez.
Die deutschen Medien stimmen dabei ein in den Tenor eines Großteils der europäischen und US-amerikanischen Presse und wiederholen dabei stetig eine Kritik, die bereits mit dem Amtsantritt von Chávez laut wurde. Die Hauptvorwürfe lauten in etwa: Die Regierung Chávez sei autoritär, unterdrücke die Bevölkerung, missachte deren demokratische Rechte und gefährde die wirtschaftliche Stabilität. Während die meisten dieser Vorwürfe durch Wahlerfolge der Regierungsparteien, das Scheitern der Opposition bei Referenden zur Abwahl der Regierung sowie durch die Ereignisse im April 2002, als die Bevölkerung den weggeputschten Präsidenten mit Massendemonstrationen wieder ins Amt holte, eindrucksvoll widerlegt wurden, lohnt bei dem Vorwurf der falschen Wirtschaftsweise ein genauerer Blick. Was ist denn nun die ›bolivarianische Revolution‹, ist Chávez etwa Kommunist?
Zunächst soll jedoch kurz auf die Geschichte Venezuelas eingegangen werden. Vor der Kolonisierung durch Spanien gab es auf dem Gebiet des heutigen Venezuela viele voneinander relativ unabhängige Gliederungen (im Gegensatz z.B. zu den Königreichen der Azteken oder der Maya). Im 16. Jahrhundert leisteten einzelne indigene Gruppen der Kolonisation Widerstand, wurden aber geschlagen. Zur Plantagenarbeit ließ die spanische Verwaltung Tausende entführter Menschen aus Afrika als SklavInnen nach Venezuela bringen. Im 19. Jahrhundert schließlich eskalierten die Konflikte zwischen der spanischen Kolonialmacht und der venezolanischen (weißen) Oberschicht, es kam zur Erhebung unter Simón Bolívar, der sich nach und nach auch Angehörige der unteren Schichten anschlossen. Im Jahr 1825 hatte Spanien seine südamerikanischen Kolonien verloren. Das ausdrückliche Ziel einer den ganzen Kontinent umfassenden und sozial gerechteren Republik scheiterte jedoch, es entstanden viele Nationalstaaten, darunter Venezuela.
Bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein bestimmten einzelne militärische Führer die Geschicke Venezuelas. Mit dem Beginn der Ölförderung im Jahr 1914 veränderte sich die ökonomische Struktur rasch, die agrarökonomische Prägung wurde zurückgedrängt, zahlreiche ImmigrantInnen kamen ins Land. Eine massive Landflucht setzte ein, die nationale Wirtschaft wurde zu großen Teilen auf die Ölindustrie ausgerichtet.
Kurze Phasen der Demokratie wurden regelmäßig von Angehörigen der christdemokratischen Partei und von populistischen Militärs gewaltsam beendet. Nach Überwindung der Militärdiktatur 1957 teilten die sozialdemokratische und die christdemokratische Partei die Macht untereinander auf, die meisten rebellischen Gruppen streckten die – politischen wie militärischen – Waffen. 1976 wurde die Erdölindustrie verstaatlicht, es kam in der Folgezeit zu einer ›Kapitalakkumulation innerhalb des Staates‹. Doch dieses Geld wurde – abgesehen von einigen öffentlichkeitswirksamen Mammutprojekten – nicht in den Ausbau der Infrastruktur gesteckt, floss nicht in Gesundheits- und Bildungsprogramme, sondern wurde zu Gunsten der Angehörigen der Oberschicht umverteilt. Ende der 1980er Jahre kam es zu kurzfristigen Erhebungen v.a. in den barrios, den Armenvierteln. Mehrere tausend Menschen wurden bei Protesten gegen Preiserhöhungen im Verkehrswesen durch die eingesetzte Armee getötet.
Die Proteste gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik fanden einen weiteren Höhepunkt im Jahr 1992, als ein Militärputsch unter Führung von Hugo Chávez scheiterte, der daraufhin bis 1994 inhaftiert wurde. Nach einem halben Jahrhundert der Militärdiktatur und einem weiteren halben Jahrhundert der unsozialen Umverteilungspolitik von unten nach oben hatte das Zwei-Parteiensystem und nahezu die komplette politische Klasse kaum noch Rückhalt. Die – zumeist von der sozialdemokratischen Partei gestellte – Regierung hatte sich jahrzehntelang an Umverteilungsvorgaben des IWF und der Weltbank orientiert und betrieb damit die gezielte Ausplünderung eines Großteils der Bevölkerung.
Die wirtschaftliche Situation der meisten Menschen war desaströs: Ende der 1990er Jahre lag das Pro-Kopf-Einkommen in Venezuela niedriger als 1960, die Lohnquote lag lediglich bei 30 Prozent.
In dieser Situation gelang es dem Militär Chávez überraschend, gestützt auf ein Parteienbündnis aus Linksparteien, Gewerkschaften, KommunistInnen, Basisbewegungen und ›indigenen Gruppen‹ (MVR – Movimiento Quinta República) die Präsidentenwahl 1998 zu gewinnen. 1999 wurde von der Bevölkerung eine neue Verfassung verabschiedet, die den Staat in ›Bolivarianische Republik Venezuela‹ umbenannte und zahlreiche Reformen festschrieb. So wurden die Rechte indigener und afrovenezolanischer Gruppen gestärkt, die Möglichkeiten für Basisprojekte verbessert, starke Mitbestimmungsrechte der Bevölkerung v.a. auf lokaler Ebene festgeschrieben und eine gesetzliche Aufwertung von Hausarbeit verankert. Konkrete Verbesserungen blieben jedoch zunächst aus. Einzig auf dem außenpolitischen Parkett gelang es Chávez in dieser Zeit, sich zu profilieren. Er war aktiv im Rahmen der OPEC, plädierte für eine nichtmilitärische Lösung der Konflikte in Kolumbien und bekannte sich offen zu seinem Vorbild Fidel Castro. Eine der Parteien im Pro-Chávez-Bündnis MVR, die linkssozialdemokratische, aus einer Guerilla-Organisation hervorgegangene MAS, spaltete sich; lediglich ein Flügel verblieb im MVR, während die andere Fraktion zur Opposition überlief, wo sich weitere Ex-Linke einfanden (so entstanden Bilder, bei denen Maoisten von Bandera Roja gemeinsam mit faschistischen Politikern auf den Barrikaden gegen die Regierung stehen).
Die Bevölkerung wartete auf das Einlösen der Wahlversprechen und die reale Umsetzung der neuen Verfassung. Zum Ausgangspunkt für die bis heute andauernde tatsächliche Reform und die neu aufkommende Begeisterung der Bevölkerung wurde schließlich der Putschversuch vom April 2002.
Nach einem Machtkampf der Regierung mit der Leitung des staatlichen Erdölkonzerns kommt es zu einem bis ins Detail vorbereiteten und mediengerecht inszenierten Putsch. Mit Unterstützung der USA werden Demonstrationen abgehalten, die die Regierungsgebäude bedrohen. Viele Menschen stellen sich den RegierungsgegnerInnen in den Weg, vorsorglich von den Aufständischen platzierte Scharfschützen erschießen einige der regierungstreuen DemonstrantInnen. Chávez wird für abgesetzt erklärt, es kommt zu Morden und Plünderungen sowie zu Angriffen auf die kubanische Botschaft durch die Anti-Chávez-DemonstrantInnen, der Chef des Unternehmerverbandes übernimmt die Macht.
Doch die Bevölkerung, v.a. aus den Armenvierteln, den Basisbewegungen und den Organisationen der Landlosen, gibt dieses Mal nicht nach. Mit Blockaden von Kasernen, Massendemonstrationen und anderen Aktionen bringen sie den Putsch zum Scheitern, ein Großteil der Armee versagt der Putschregierung die Unterstützung, Chávez kehrt nach Caracas und in sein Amt zurück.
Eine zweite massive Auseinandersetzung erlebt das Land Ende 2002, als ein ›Streik‹ (tatsächlich war es eher eine Aussperrung) in der Erdölindustrie Milliardenverluste herbeiführt. Doch auch diesen Konflikt konnte die Regierung für sich entscheiden, im Februar 2003 bricht die Opposition den ›Streik‹ ab.
Die Opposition verfügt seit dem Amtsantritt Chávez‘ über Machtmittel, die der Regierung fehlen: Mit Hilfe von rechten Gewerkschaften – v.a. in der Ölindustrie –, mit Hilfe der Polizei und über Massenmedien versucht die Opposition, den demokratischen Prozess zu behindern. (Nicht umsonst ist eines der Reformprojekte die Erleichterung beim Aufbau alternativer Radio- und Fernsehsender.) Vor allem in der Hauptstadt Caracas beteiligt sich die städtische Polizei, die nicht der Regierung, sondern dem Bürgermeister untersteht, immer wieder an gewaltsamen Ausschreitungen und zögert dabei nicht, sich in Uniform und mit Dienstwaffen an Angriffen auf staatliche Einrichtungen oder regierungsnahe Demonstrationen zu beteiligen. Die parlamentarische Mehrheit des MVR verringert sich kontinuierlich, nachdem immer wieder einzelne Abgeordnete aus politischen Gründen oder in Folge von Bestechungszahlungen zur Opposition wechseln.
Gleichzeitig zieht die Opposition massive Unterstützung aus dem Ausland an: US-Geheimdienste beteiligten sich aktiv am Putschversuch und lieferten logistische Unterstützung, deutsche Stiftungen – darunter Konrad-Adenauer- und Friedrich-Ebert-Stiftung – unterstützen putschistische Parteien und Gruppen, EU und Bundesregierung beteiligen sich an verbalen Angriffen gegen die venezolanische Regierung.
In einem intensiv vorbereiteten Referendum versuchte die Opposition, den Präsidenten durch das Volk abwählen zu lassen. Dieser Versuch ist gescheitert, selbst die BeobachterInnen imperialistischer Staaten – die nur zu gerne verhindern möchten, dass Venezuela ein Beispiel für den erfolgreichen Ausbruch aus einem der ›Hinterhöfe‹ wird – mussten anerkennen, dass zu wenige Unterschriften zusammen kamen und dass von den eingegangenen Unterschriften ein Großteil offensichtlich gefälscht war.
Venezuela könnte ein reiches Land sein. Seit vielen Jahren ist es viertgrößter – aktuell nach dem Überfall auf den Irak und der Zerstörung der irakischen Ölförderungsinfrastruktur drittgrößter – Erdölexporteur der Welt. Die USA beziehen aus Venezuela mehr Öl als aus allen anderen Staaten. Doch die Einnahmen aus den Ölverkäufen verschwanden (und verschwinden teilweise immer noch) in den Taschen der Öl-Oligarchie. Ohne eine Einbeziehung der Öl-Milliarden in die Staatsreform wird keine dauerhafte soziale Politik möglich sein. Trotzdem zeigen sich erste Erfolge.
In Venezuela werden – wenn auch in weitaus geringerem Maße, als man es sich nach Chávez‘ Ankündigungen erhofft hätte – Alternativen zur neoliberalen Wirtschaftsweise erprobt. Der Freihandel wurde beschränkt, Gewinne aus Finanztransaktionen stärker besteuert, die Mitbestimmungsrechte ausgeweitet, es kam zu Land- und Bildungsreformen.
Ohne eine Landreform ist in den Staaten Mittel- und Lateinamerikas keine soziale Reform zu machen: Der Großgrundbesitz muss umverteilt werden. Dass dieses Projekt nun – verbunden mit Alphabetisierungs- und Gesundheitsprogrammen – endlich angegangen wird, ist zweifellos ein Erfolg. Die zuweilen gewaltsamen Auseinandersetzungen der letzten Jahre verlaufen überdeutlich entlang von Klassengrenzen: Das weiße Bürgertum und die reiche Oberschicht gehen bei der Verteidigung ihrer Privilegien und ihrer Reichtümer über Leichen. Die arme Bevölkerung misstraut trotz aller Begeisterung auch der aktuellen Regierung und setzt stattdessen größtenteils auf Eigeninitiative. Von der Regierung erwartet sie vor allem, diese Eigeninitiative nicht zu behindern und gelegentlich zu unterstützen. Für Linke, die dem einen oder anderen Staatssozialismus – zu Recht – hinterhertrauern, ist diese Absage an einen starken Staat häufig schwer verständlich. Sie könnte aber gerade auch Garantin dafür sein, dass diese Bewegung nicht so einfach wieder verschwindet, wenn Chávez – im Ergebnis einer demokratischen Wahl oder in Folge eines Putsches – nicht mehr Präsident ist.
Der Reformismus venezolanischer Prägung kommt bisher ohne militärische Unterdrückung aus, aber auch ohne organisierte und großflächige Umverteilung. In einem nicht konfliktfreien Prozess zwischen Basisbewegungen und Regierungsorganisationen entsteht ein Projekt, das trotz der Einbettung in die neoliberale Weltwirtschaft die Verbesserung der Lebenschancen und -bedingungen anstrebt. Doch die Warnungen aus den USA sind eindeutig: Ein sozialistisches Venezuela wird nicht hingenommen werden; gerade die Verbindung mit Kuba ist US-amerikanischen PolitikerInnen ein Gräuel (und ist nebenbei wegen der Verknüpfung der venezolanischen Oberschicht mit exilkubanischen Organisationen auch ein Kernelement des innervenezolanischen Konflikts). Der Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei, John Kerry, hat sich bereits ausgiebig zu Chávez geäußert. Dieser sei ein brutaler Autokrat, den man nicht länger gewähren lassen dürfe.
Jedoch scheinen die USA außenpolitisch mittelfristig andere Sorgen zu haben. Man könnte unterstellen, solange das Öl fließt, stehe eine direkte Konfrontation nicht zu befürchten. Auf der anderen Seite zeigen die Verwicklung der USA in den Putschversuch, die öffentlichen Beschwerden über venezolanische Öllieferungen an das sozialistische Kuba und die Behauptung einer Terror-Allianz zwischen Kuba, Venezuela und der kolumbianischen FARC, dass der wachsame Blick der US-Administration auf Venezuela lastet. Vielleicht ließe sich also der bisherige Verzicht auf umfassende Verstaatlichungen in Venezuela auch als ein Beitrag zur Abwehr einer noch konkreteren Einflussnahme der USA deuten. Die jüngsten Ereignisse in Lateinamerika geben unbotsamen Regierungen neuen Grund zur Sorge: Der Putsch in Haiti reiht sich fast nahtlos ein in die Geschichte Latein- und Südamerikas und weist dabei noch Parallelen zu Ereignissen in anderen Einflusssphären der USA auf. Ein demokratisch gewählter Präsident (den die USA während einer früheren Amtzeit schon einmal an die Macht zurückgebracht hatten) wird von PutschistInnen vertrieben, die militärische Unterstützung der USA, Frankreichs und anderer Staaten erhalten – während gleichzeitig an anderen Orten militärische Interventionen mit dem ausdrücklichen Ziel durchgeführt werden, Demokratie herbeizuschaffen. Nach eigenen Angaben wurde Aristide gegen seinen Willen von US-Truppen aus Haiti gebracht, mittlerweile hält er sich in Jamaika auf. Jamaika und Venezuela sind es dann auch, die die Putschregierung in Haiti nicht anerkennen und ihre Botschafter zurückgezogen haben.
Insgesamt scheint das letzte Wort über die künftige Entwicklung in Venezuela noch nicht gesprochen. Die Tendenz zu Subsistent und Selbstverantwortung ohne allgemeine Solidarsysteme ist gefährlich. Ein Sozialismus in einem Land ist ohnehin nicht praktizierbar. Dennoch: Die reale Verbesserung der Lebensbedingungen und ein – wenn auch zaghafter – Ansatz zur Umverteilung der Milliarden sind eine Chance für die Bevölkerung, die bisher von jeder Regierung nur ausgeplündert wurde. Wenn die Regierung Chávez dann noch einen Beitrag leisten kann zu einer stärkeren Kooperation der Staaten, die sich dem Neoliberalismus widersetzen wollen, und darüber hinaus ihren Internationalismus – den könnte man einfach von der sonst auch als Vorbild herangezogenen kubanischen Regierung übernehmen – ausbaute, dann wäre zumindest ein kleiner Beitrag gegen imperialistische Hegemonie und Ausbeutung geleistet.
(gt)